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Wanderschaft der Nasenkneifer
von Josepha Franziska Konsek
Ein leuchtend blauer Herbsthimmel spannt sich hoch über den Baumwipfeln. Ganz langsam, mit Bedacht beginnen die Bäume ihre Kraft den Wurzeln zurück zu geben. Mutter Ahorn betrachtet liebevoll ihre Nachkommenschaft. Bald werden sich die im Büschel hängenden lang geflügelten Spaltfrüchte von ihr trennen. Sie werden sich teilen, und jede Hälfte wird wie ein kleiner Helikopter-Rotorflügel vom Wind weit fort getragen. Mutter Ahorn seufzt. Eine ihr gegenüber stehende Linde ahnt, wie dem Baum zumute ist. „Tröste dich, liebe Freundin, ich habe meine Kinder bereits im Juli hergegeben. Einige von ihnen haben jedes Jahr das Glück gepflückt und zu Tee verarbeitet zu werden. So konnten sie schon vielen Menschen zum Wohlgefühl verhelfen. Glaube mir, Deinen Kindern wird es gelingen einen geeigneten Ort zu finden, wo sie Wurzeln schlagen können. Dort werden sie ihr Leben lang für gute Luft sorgen.“ „Genauso wünsche ich es mir“, antwortet Mutter Ahorn.
Die beiden Bäume blicken in den Himmel über sich. Sie bewundern die dicken weißen Kumuluswolken, die wie große Watteberge am Himmel ihre Plätze eingenommen haben. Das Blätterrascheln der vom Anblick der Naturschönheiten entzückten Baumdamen weckt einen schon betagten Herrn aus seinem Nachmittagsschlaf. Bevor er sich dazu entschließt ein Gespräch mit den Damen zu beginnen, ruft er den Wind herbei. Dieser soll ihm dabei behilflich sein, den steif gewordenen Ast beweglicher zu machen, um sich den Schlaf aus den Blättern
wischen zu können. Herr Eiche, dessen Wurzeln schon seit über hundert Jahren seinen schweren Stamm tragen müssen, ärgert sich seit geraumer Zeit darüber, dass sein Gehör dem Wunsch alles in seinem Umfeld mitbekommen zu können, nicht mehr gerecht wird. Seiner aufgeschlossenen Art gegenüber anderen Bäumen tut das jedoch keinen Abbruch. Dafür, dass er weniger hören kann, erzählt er seine Geschichten umso lieber. Immer öfter erfreut er sich einer aufmerksamen Zuhörerschaft.
„Meine Damen“, leitet er das Gespräch ein. „Meine verehrten Damen! Ich entbiete Ihnen meinen Gruß. Habe ich Ihnen schon die Geschichte von den Bäumen aus der Parkallee erzählt? Die Geschichte mit den Nasenkneifern? Nein? Oh, wie schön, dann darf ich Sie beide mit dieser für Sie unbekannten Geschichte erfreuen? Also, hören Sie gut zu!“
„Nein, alter Mann! Du wirst diese Geschichte nicht erzählen. Ich habe sie erlebt. Du hattest hier schon lange Deine Wurzeln geschlagen, bevor ich als junges Ding einem Kind aus seiner Tasche fiel und just hier in Deiner Nähe aufwachsen musste anstatt in der Nähe meiner Verwandten bleiben zu können.“ Die prächtige, sich in der Blüte ihrer Jahre befindlichen Kastanie bewegt sich aufgeregt. Ein paar ihrer sich noch im stacheligen Bett befindlichen Kinder fallen neben ihr auf die Erde.
„Ach, du mein liebes Kastänchen; habe ich Dich nicht immer getröstet, wenn Du von Heimweh geschüttelt wurdest? Das Kind, dem Du aus der Tasche gefallen bist, um hier Deinen Platz zu finden, hat bestimmt sehr um den Verlust getrau-
ert. Ich möchte Deine Geschichte den Damen Ahorn und Linde doch so gerne erzählen. Schau, es ist mir nicht mehr vergönnt mit meinem eingeschränkten Gehör an Gesprächen teilzunehmen. Geschichten erzählen aber, und Zuhörer in meinen Bann ziehen, kann ich wie kaum ein anderer.“
„Na gut, Du alter knorriger Eichbaum. Du darfst sie erzählen.“ Die Kastanie wird von einer Windbö heftig geschüttelt. Einige der Kinderbetten platzen auf und rotbraun glänzende kleine Kerlchen machen es sich am Fuß der Mutter bequem. Um keinen Preis möchten sie die Geschichte versäumen, die der Eichbaum zu erzählen versprochen hat.
Bevor der alte Eichbaum mit der Geschichte beginnt, stellt er den Blickkontakt zu den Damen Ahorn und Linde her. Das ist nicht so einfach, denn Frau Ahorn steht auf der gegenüber-liegenden Straßenseite. Bei genauerer Be-trachtung nimmt er erstaunt den Lichterschmuck an ihr wahr. „Frau Ahorn, sie sind ja geschmückt, wie ein Christbaum!“ Bevor er jedoch nach dem Grund für dieses ungewöhnliche Aussehen fragen kann, erfolgt die Erklärung.
„Hier findet eine Nacht der Bäume statt! Menschen werden kommen, um unter unserem Blätterdach zu lesen.
Auf diese Weise versuchen Sie uns zu helfen, dass wir hier in dieser Straße bleiben dürfen. So alte Bäume, wie uns kann man nicht mehr verpflanzen. Wussten Sie, Herr Eiche, dass ein Blatt von uns die kanadische Flagge ziert? So viel zu ihrer angedeuteten Frage. Nun sind wir aber voller Neugierde Ihre Geschichte zu hören.“
Herr Eiche schüttelt noch einmal sein Laub. Dann beginnt er mit der Erzählung.
„Vor ungefähr sechzig Jahren muss es gewesen sein, als immer, wenn es Herbst wurde, die Kinder auf dem Weg zur Schule auch eine Straße auf der Rückseite eines Parks überqueren mussten, die mit großen Bäumen bewachsen war. Viele dieser Bäume entließen zu dieser Jahreszeit ihre Kinder in die weite Welt. Die Kastanien ließen ihre Früchte zur Erde gleiten, deren rotbraun glänzenden Kerne mit der Haarfarbe eines der Kinder um die Wette leuchteten. Meine Geschwister, die Eichen, warfen ihre mit schönen Hauben verzierten Eicheln in die Waagschale. Die Buchen gaben ihre zu Sternen geöffneten Eckern und vom Ahorn starteten kleine Helikopter, deren Flügel die Kinder sich auf ihre Nasen klebten. Kleine Nasenkneifer, die sie auf dem Schulweg wieder verloren, und die sich dann vom Wind forttragen ließen bis zu ihrem Bestimmungsort.“
Hier unterbricht Mutter Ahorn aufgeregt die Erzählung des alten Herrn. „Dann könnten einige von uns theoretisch von dort abstammen! Ich erinnere mich an zwei kleine Mädchen und an einen Jungen. Ich sah sie, wie sie unter der Krone meiner Mutter den Bürgersteig entlang liefen. Manchmal suchten sie unter dem Blätterdach Schutz vor Regen. Ich erinnere mich jetzt ganz genau an sie. Wir waren alle noch so jung!“ Nachdenklich bewegt sie ihre Feinwurzeln. Wenn sie doch noch einmal dorthin zurück könnte.
Der alte Eichbaum betrachtet sie lächelnd. Die Erzählung hat ihn müde gemacht. Er bedeckt seine Augen mit den Blättern und sinkt in einen erholsamen Schlaf. Den braucht er, denn die kommende Nacht verspricht lang und aufregend zu werden. Diese Nacht möchte er mit jeder Faser seines Holzes erleben. Frau Kastanie schüttelt missbilligend ihre Äste. Sie sieht sich ge-zwungen, Frau Ahorn den Rest der Geschichte zu erzählen. „Von einem dieser Mädchen wurde ich einst aufgesammelt, poliert und in die Manteltasche gesteckt. Dort blieb ich solange, bis ich während eines Besuches, den das Kind hier vor Ort bei seiner Tante machte, aus der Manteltasche rutschte.“ Mitleidig nahm Frau Ahorn die Trauer in Kastänchens Stimme wahr. Hier war sie also groß geworden, genauso wie sie selbst. Hier war jetzt ihrer beider Heimat.
Langsam setzt die Dämmerung ein. Kein Windzug bewegt die Blätter. Ein warmer, sonniger Herbsttag neigt sich dem Ende zu.
Stühle werden gebracht und unter die Bäume gestellt. Verlängerungskabel werden ange-schlossen. Die an den Bäumen befestigten Lichter tauchen die Baumkronen in ein sphärisches Licht.
Aus einiger Entfernung dringen zwei Frauenstimmen an das Ohr des Ahornbaumes. Diese Stimmen, sie hat diese Stimmen schon einmal gehört. Vor sehr langer Zeit. Woher kenne ich diese Stimmen, fragt sie sich. Die Stimmen nähern sich. Sie hofft, der Unterhaltung etwas entnehmen zu können, das eine Erinnerung in ihr wach ruft.
„Weißt Du noch“ – hört sie die eine Frau sagen – „wie wir auf dem Weg zur Schule in der Parkallee Kastanien, Eicheln und Bucheckern gesammelt haben?“ Ein fröhliches Lachen kommt aus dem Mund der anderen Frau. „Oh ja, wie könnte ich die Zeit vergessen. Da war der Ahorn der uns die lustigen Nasenkneifer geschenkt hat. Wir sind nicht nur einmal seinetwegen zu spät zur Schule gekommen. Was waren das für wunderschöne alte Bäume. Ich war kürzlich in der Gegend. Sie stehen dort immer noch.“ Die Frauen schritten eine Weile stumm voran. Dann meldete sich die erste wieder zu Wort:
„Nach dem Krieg gab es nicht mehr viele Straßen, die den Namen Allee verdient haben. Zu viele Bäume haben im Feuersturm ihr Leben lassen müssen. Schau mal, diese Ahorn-Bäume müssten ungefähr unser Alter haben. Helfen wir ihnen, dass sie noch ein wenig bleiben dürfen. Wir beide haben schließlich den gleichen Anspruch an diese Zeit. Sag mal, hat hier damals nicht Deine Tante gewohnt? Ich meine, dass Deine Eltern und Du sie viel besucht habt. Hatten sie nicht auch Hühner und Kaninchen? Damals war dieser Stadtteil noch nicht so dicht besiedelt wie heutzutage. Wer weiß, vielleicht hat eine der vielen Kastanien, die Du immer bei Dir hattest, hier Wurzeln geschlagen?“
Genauso, wie Frau Ahorn hat auch Kastänchen die Unterhaltung der beiden Frauen verfolgen können. Kastänchen ergreift die Hand des Windes und lässt sich von ihm im Freudentanz wiegen. In der Erinnerung fühlt sie wieder den weichen Stoff der Manteltasche des Mädchens.
Frau Ahorn ist glücklich. Sie will die Freude, die sie empfindet teilen und ruft alles herbei, was ihr bekannt ist. Ihr Ruf erreicht das Ohr einer kleinen verirrten Wolke. Sie eilt Frau Ahorn zu Hilfe, weil sie denkt, dass diese die nasse Fracht die sie, die Wolke mit sich führt, dringend benötigt. Als sie sich über dem Baum kurz aber heftig entleert, dehnt er seine Krone auf ein Maximum aus, um die unter ihm Schutz suchenden Frauen aus seiner Kindheit zu beschirmen. So plötzlich, wie der Regenschauer gekommen ist, ist er wieder fort. Die Straße ist im nu wieder trocken, den Sitzflächen der Stühle hat der Regen nichts anhaben können. Mensch und Natur machen sich bereit für die Nacht der Bäume.
Juli 2009 J.F.K.
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